Veröffentlicht am Mai 17, 2024

Die meisten Notfälle an deutschen Küsten sind keine unglücklichen Zufälle, sondern das Ergebnis vorhersehbarer Fehler bei der Interpretation von Gezeiten und Wetter.

  • Die Fehleinschätzung des sicheren Zeitfensters zwischen Ebbe und Flut ist die häufigste und gefährlichste Ursache für Notlagen im Watt.
  • Digitale Hilfsmittel wie GPS-Apps sind nützlich, aber eine analoge Redundanz (Kompass, Papier-Gezeitenkalender) ist bei Technikausfall überlebenswichtig.

Empfehlung: Planen Sie jede Tour defensiv, starten Sie spätestens 2 Stunden vor Niedrigwasser und kehren Sie beim ersten Anzeichen eines Wetterumschwungs oder bei Orientierungsverlust sofort um.

Der Reiz einer einsamen Bucht, das Knistern von Muschelschalen unter den Füßen, der weite Horizont über dem Wattenmeer – unzugängliche Küstenabschnitte versprechen Abenteuer und eine tiefe Verbindung zur Natur. Viele abenteuerlustige Deutsche träumen davon, diese Orte auf eigene Faust zu entdecken, weitab von ausgetretenen Pfaden. Doch diese Freiheit birgt ein oft unterschätztes Risiko. Viele verlassen sich auf ein schnelles Nachschlagen in einer App und glauben, die Gefahr gebannt zu haben. Doch die Realität ist komplexer und die Konsequenzen einer Fehleinschätzung können fatal sein.

Die wahre Sicherheit an der Küste liegt nicht allein in der Technologie, sondern in der Fähigkeit, die Umgebung zu lesen und die systemischen Risiken zu verstehen. Es geht darum, die subtilen Warnsignale der Natur zu erkennen, bevor sie zu einer akuten Bedrohung werden. Dieses Verständnis für die Wechselwirkungen von Gezeiten, Wetter und Topografie ist der entscheidende Faktor, der eine unvergessliche Entdeckungstour von einem potenziellen Notfall unterscheidet. Die meisten Unfälle passieren nicht aus heiterem Himmel, sondern sind das Ergebnis einer Kette kleiner, vermeidbarer Fehler.

Dieser Leitfaden geht daher über die üblichen Ratschläge hinaus. Er taucht tief in die Mechanismen der Gezeiten ein, schärft Ihren Blick für kritische Wetterzeichen und vermittelt Ihnen das nötige Wissen, um Risiken nicht nur zu kennen, sondern aktiv zu managen. Wir zeigen Ihnen, wie Sie sichere Zeitfenster selbstständig definieren, welche Ausrüstung wirklich zählt und wie Sie im Ernstfall richtig handeln. Ziel ist es, Ihnen nicht die Abenteuerlust zu nehmen, sondern Ihnen die Kompetenz zu verleihen, diese sicher auszuleben.

Um Ihnen eine strukturierte Orientierung zu bieten, haben wir diesen Artikel in mehrere Kernbereiche unterteilt. Jeder Abschnitt baut auf dem vorherigen auf, von der fundamentalen Gefahr der Gezeiten bis hin zu den Verhaltensregeln in diesem einzigartigen Ökosystem.

Warum 60% der Küsten-Notfälle durch Gezeitenunkenntnis entstehen?

Die Vorstellung, von der Flut eingeschlossen zu werden, ist der Albtraum jedes Küstenwanderers. Doch es ist kein seltenes Schicksal. Die Statistik ist alarmierend: Die Mehrheit der maritimen Notfälle, die keine technischen Defekte von Schiffen betreffen, geht auf das Konto von Personen, die die Macht und Geschwindigkeit der Gezeiten falsch einschätzen. Was laut Schätzungen von DLRG und DGzRS an der deutschen Küste zu 150 bis 250 Einsätzen pro Jahr führt – mit steigender Tendenz. Diese Vorfälle sind selten das Ergebnis eines einzelnen Fehlers, sondern meist eine fatale Kombination mehrerer Faktoren.

Ein prägnantes Beispiel ereignete sich erst Ostermontag 2024: Selbst der erfahrene Wattführer Dark Blome musste mit einer 30-köpfigen Gruppe zwischen Amrum und Föhr die Seenotretter der DGzRS alarmieren. Ein Priel, ein Wasserlauf im Watt, führte plötzlich mehr Wasser als vorhergesagt und schnitt der Gruppe den Rückweg ab. Dieser Vorfall zeigt: Selbstüberschätzung ist fehl am Platz. Die Gefahr liegt oft im Systemdenken: Nicht die Gezeit allein ist das Problem, sondern ihre Kombination mit plötzlich aufkommendem Seenebel, der die Orientierung raubt, oder der Fehleinschätzung der eigenen Geschwindigkeit.

Die drei kritischsten Faktoren, die immer wieder zu Notfällen führen, sind:

  • Die Kombination von Gefahren: Wie Wattführer Ohle thor Straten betont, sind es meistens nicht isolierte Probleme, sondern das Zusammenspiel von Nebel, unerwartet tiefen Prielen und einer falschen Zeiteinschätzung, das zur Katastrophe führt.
  • Missachtung der Zeitpuffer: Die DLRG empfiehlt, sich nie weiter vom Ufer zu entfernen, als man in 10 Minuten zurücklegen kann. Viele ignorieren diesen Puffer und werden von der Geschwindigkeit der Flut überrascht.
  • Technik-Abhängigkeit: Der Glaube, mit dem Smartphone jederzeit Hilfe rufen zu können, ist trügerisch. Tim Schriemer von der DLRG warnt, dass es im weiten Watt oft keinen Mobilfunkempfang gibt.

Die Unkenntnis über die Gezeiten ist also keine Wissenslücke, sondern eine fatale Fehleinschätzung der Dynamik und der Verkettung von Risiken. Die Natur verzeiht hier keine Arroganz.

Wie Sie Gezeitentabellen richtig interpretieren und sichere Zeitfenster nutzen?

Ein Gezeitenkalender ist mehr als eine Liste von Uhrzeiten; er ist Ihr wichtigstes Instrument zur Risikobewertung. Die korrekte Interpretation entscheidet über Sicherheit und Gefahr. Der häufigste Fehler ist, nur auf die Zeit des Niedrigwassers (Ebbe) zu schauen und die Dauer des auflaufenden Wassers (Flut) zu unterschätzen. Die wichtigste Regel für eine sichere Tour lautet: Planen Sie mit Zeitfenster-Disziplin. Das bedeutet, nicht nur den Startpunkt, sondern vor allem den spätesten Umkehrpunkt festzulegen.

Als goldene Regel für das deutsche Wattenmeer gilt: Beginnen Sie Ihre Wanderung etwa zwei Stunden vor dem Zeitpunkt des niedrigsten Wasserstands. So nutzen Sie die Phase, in der das Wasser am weitesten zurückgegangen ist, und haben einen maximalen Sicherheitspuffer für den Rückweg. Der kritische Moment ist nicht die Ebbe selbst, sondern der Moment, in dem die Flut zurückkehrt. Dies geschieht oft mit überraschender Geschwindigkeit und Kraft, vor allem in den Prielen.

Detailaufnahme einer Hand mit Kompass und Gezeitenkalender am deutschen Wattenmeer

Diese visuelle Vorbereitung, wie sie die Abbildung andeutet, ist entscheidend. Die Kombination aus Karte, Kompass und Gezeitenkalender bildet Ihre Sicherheitsgrundlage. Ein erfahrener Wattführer hat dazu eine klare Warnung, die jeder verinnerlichen sollte.

Die Priele laufen nach dem Niedrigwasser zuerst voll und haben starke Strömungen, sie können Ihnen den Rückweg abschneiden!

– Johann P., Wattführer Neßmersiel – Goldene Regeln für Wattwanderer

Diese Aussage unterstreicht den wichtigsten Punkt: Ihr größter Feind ist nicht das offene Meer, sondern die unscheinbaren Wasserläufe, die sich in reißende Flüsse verwandeln. Prüfen Sie daher auf Ihrer Karte vorab den Verlauf der Priele und planen Sie Ihren Rückweg so, dass Sie diese lange vor dem Einsetzen der Flut überquert haben. Ein sicheres Zeitfenster ist kein Vorschlag, sondern eine unumstößliche Regel.

Gezeitenkalender oder GPS-Tracker: Welche Ausrüstung ist überlebenswichtig?

In einer Welt voller High-Tech-Gadgets stellt sich die Frage: Reicht eine App auf dem Smartphone oder braucht es noch die klassische Ausrüstung? Die Antwort lautet: Beides. Das Konzept der analogen Redundanz ist hier nicht altmodisch, sondern eine überlebenswichtige Strategie. Sich ausschließlich auf digitale Geräte zu verlassen, ist einer der gravierendsten Fehler, wie der tragische Tod eines 73-jährigen Wanderers bei Büsum zeigt, der von der Flut überrascht wurde. Ein leerer Akku, kein Netz oder ein Sturz ins Wasser können Ihr digitales Sicherheitsnetz von einer Sekunde auf die andere zerstören.

Die richtige Ausrüstung ist eine Kombination aus bewährten analogen Werkzeugen und modernen digitalen Helfern. Die folgende Übersicht zeigt die Vor- und Nachteile der wichtigsten Komponenten für eine sichere Wattwanderung, basierend auf den Empfehlungen erfahrener Küstenexperten.

Vergleich der wichtigsten Sicherheitsausrüstung für Wattwanderer
Ausrüstung Vorteile Nachteile Empfehlung
Papier-Gezeitenkalender Funktioniert ohne Strom, immer verfügbar Keine Echtzeitdaten Basis-Pflicht
BSH-App ‚Gezeiten‘ Aktuelle Daten, präzise Vorhersagen Akkuabhängig, Empfang nötig Zusätzlich empfohlen
GPS-Handgerät Präzise Ortung, robust Teuer, Bedienung komplex Für Profis
Kompass Zuverlässig, stromlos Erfordert Übung Pflicht-Backup

Die Empfehlung ist klar: Ein Papier-Gezeitenkalender und ein traditioneller Kompass gehören als ausfallsichere Basis in jeden Rucksack. Sie sind Ihr Anker, wenn die Technik versagt. Die offizielle „Gezeiten“-App des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) ist eine hervorragende Ergänzung für präzise, aktuelle Daten – aber niemals ein Ersatz. Ein dediziertes GPS-Handgerät ist für die meisten Hobby-Wanderer übertrieben, kann aber bei professionellen oder sehr ambitionierten Touren sinnvoll sein. Die wichtigste Ausrüstung ist jedoch die Kompetenz, diese Werkzeuge auch unter Stress korrekt bedienen zu können.

Die 5 Wetterzeichen, die Sie 2 Stunden vor Küstensturm warnen

Das Wetter an der Küste, insbesondere im Wattenmeer, ist berüchtigt für seine schnellen und unvorhersehbaren Wechsel. Eine sonnige Tour kann sich abrupt in einen Überlebenskampf verwandeln. Experten des AOK-Gesundheitsmagazins warnen, dass sich bei aufkommendem Seenebel die Sichtverhältnisse binnen Minuten drastisch verschlechtern können, was zu vollständiger Desorientierung führt. Es reicht nicht, morgens den Wetterbericht zu prüfen. Sie müssen lernen, die Signale geringer Intensität zu lesen – die subtilen Vorboten eines Wetterumschwungs, die Ihnen oft ein Zeitfenster von bis zu zwei Stunden für den sicheren Rückzug geben.

Erfahrene Seeleute und Wattführer achten nicht nur auf Wolken, sondern auf eine ganze Reihe von Indikatoren. Diese Fähigkeit zur Naturbeobachtung ist oft zuverlässiger als jede Wetter-App. Die folgende Checkliste fasst die fünf kritischsten Warnsignale zusammen, bei denen Sie ohne zu zögern umkehren sollten.

Ihr Aktionsplan: 5 Wetter-Warnsignale, die sofortige Umkehr erfordern

  1. Plötzlich aufkommender Seenebel: Wenn die Sicht unter 100 Meter fällt und Sie das Ufer nicht mehr klar erkennen können, ist eine sofortige Umkehr entlang Ihrer eigenen Spuren (falls sichtbar) oder per Kompasskurs unumgänglich.
  2. Dunkle Wolkenbildung am Horizont: Besonders türmchenartige Wolken (Cumulonimbus) sind Vorboten von Gewittern. Im flachen Watt sind Sie der höchste Punkt und extrem blitzschlaggefährdet.
  3. Auffälliger Windwechsel oder -verstärkung: Eine plötzliche Änderung der Windrichtung oder eine schnelle Zunahme der Windstärke kann die Flut deutlich früher und stärker auflaufen lassen als vorhergesagt.
  4. Ungewöhnliches Tierverhalten: Wenn große Schwärme von Küstenvögeln plötzlich panisch landeinwärts fliegen oder Seehunde ihre Sandbänke überstürzt verlassen, spüren sie oft eine herannahende Wetterfront.
  5. Schneller Temperaturabfall: Ein spürbarer, rascher Abfall der Lufttemperatur ist oft ein klares Anzeichen für einen bevorstehenden Wetterumschwung oder den Einzug einer Kaltfront.

Diese Zeichen zu erkennen, ist eine erlernbare Fähigkeit. Schulen Sie Ihren Blick bei jeder Tour und nehmen Sie jede Veränderung ernst. Im Zweifel gilt immer: Sicherheit vor Abenteuer. Der Berg oder in diesem Fall das Watt läuft Ihnen nicht davon.

Wen rufen Sie in maritimen Notfällen in welchem Land?

Trotz bester Planung und Vorsicht kann eine Notsituation eintreten. In diesem Moment sind klares Handeln und das Wissen um die richtige Notrufnummer entscheidend. Panik und Unwissenheit können wertvolle Minuten kosten. Die allgemeine europäische Notrufnummer 112 ist immer eine richtige Wahl, da sie Sie mit der nächstgelegenen Rettungsleitstelle verbindet. Diese leitet den Notruf dann an die zuständigen Organisationen wie Feuerwehr, DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft) oder DGzRS (Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger) weiter.

Rettungseinsatz der DGzRS im deutschen Wattenmeer bei dramatischem Wetter

Für Notfälle an der deutschen Küste und auf See gibt es jedoch eine noch direktere und spezialisierte Anlaufstelle. Die Seenotleitung Bremen der DGzRS ist die zentrale Koordinierungsstelle für alle maritimen Rettungseinsätze. Sie ist rund um die Uhr besetzt und koordiniert die Rettungsflotte sowie andere beteiligte Kräfte.

Speichern Sie sich daher unbedingt diese Nummer in Ihrem Handy ab, idealerweise unter einem schnell auffindbaren Namen wie „NOTRUF SEE“. Die Seenotleitung ist direkt unter der Notrufnummer 0421 536 870 erreichbar. Ein Anruf hier stellt sicher, dass sofort Experten die Situation bewerten und die am besten geeigneten Rettungsmittel entsenden. Geben Sie bei einem Notruf immer die folgenden Informationen durch (die 5 Ws):

  • Wo ist der Notfallort? (So präzise wie möglich, GPS-Koordinaten falls vorhanden)
  • Was ist passiert? (Person von Flut eingeschlossen, Verletzung, Erschöpfung)
  • Wie viele Personen sind betroffen?
  • Welche Art von Verletzungen oder Problemen liegen vor?
  • Warten Sie auf Rückfragen! Legen Sie nicht auf.

Zu wissen, wen man anruft, ist ein entscheidender Teil des Sicherheitskonzepts. Diese Information kann im Ernstfall Leben retten.

Die 3 Wildnis-Risiken, die 80% der Unerfahrenen unterschätzen

Neben der offensichtlichen Gefahr durch die Flut lauern im Watt weitere Risiken, die von unerfahrenen Wanderern oft sträflich unterschätzt werden. Diese „Wildnis-Risiken“ sind weniger dramatisch als eine Sturmflut, aber nicht minder gefährlich. Sie führen zu Situationen, aus denen man sich oft nicht mehr selbst befreien kann. Rettungseinsätze wie die bei Cuxhaven und Butjadingen, wo Retter innerhalb einer Woche mehrfach ausrücken mussten – einmal zu bereits schwimmenden Erwachsenen, einmal zu im Schlick festsitzenden Jugendlichen – illustrieren diese verborgenen Tücken eindrücklich.

Die drei am häufigsten unterschätzten Gefahren sind:

  1. Schlicklöcher und Saugstellen: Das Watt ist kein homogener Sandboden. Besonders in der Nähe von Prielen oder in Senken kann der Boden aus tiefem, weichem Schlick bestehen. Ähnlich wie Treibsand kann man hier tief einsinken. Panische Bewegungen verschlimmern die Situation und führen dazu, dass man sich festsaugt. Die Befreiung aus eigener Kraft ist oft unmöglich und erfordert schnelle Hilfe von außen.
  2. Die Strömung der Priele: Auch bei Niedrigwasser führen Priele noch Wasser. Viele unterschätzen die starke Strömung, die selbst in knietiefem Wasser einen Erwachsenen von den Beinen reißen kann. Beim Versuch, einen Priel zu durchwaten, kann man abgetrieben oder in tiefere Bereiche gespült werden, was den Rückweg endgültig abschneidet.
  3. Blitzschlaggefahr bei Gewitter: Dies ist eine der am meisten ignorierten Gefahren. Im flachen, baumlosen Watt ist ein Mensch automatisch der höchste Punkt in der Landschaft. Bei einem aufziehenden Gewitter wird man so zu einem natürlichen Blitzableiter. Die einzige richtige Reaktion bei Gewitterwarnung ist die sofortige, schnellstmögliche Rückkehr zum sicheren Festland.

Diese Risiken erfordern eine andere Art der Risiko-Wahrnehmung. Es geht nicht nur um die Uhrzeit, sondern um die genaue Beobachtung des Untergrunds, die Einschätzung der Wassertiefe und -geschwindigkeit und einen ständigen Blick zum Himmel. Das Watt ist eine Wildnis, keine Parklandschaft.

Warum professionelle Extremsportler statistisch sicherer sind als Hobbysportler?

Es mag paradox klingen, aber professionelle Extremsportler, die sich bewusst höchsten Risiken aussetzen, sind oft sicherer unterwegs als der durchschnittliche Hobby-Abenteurer im Wattenmeer. Der Grund liegt nicht in einer besseren Ausrüstung, sondern in der mentalen Einstellung: Vorbereitung, Demut und Risikomanagement. Während viele Touristen, wie Rettungskräfte immer wieder berichten, aus einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Unkenntnis in Gefahr geraten, planen Profis jeden Schritt und kalkulieren das Restrisiko.

Der entscheidende Unterschied ist die Risiko-Wahrnehmung. Ein Profi sieht ein aufziehendes Wölkchen nicht als Störung, sondern als Datenelement in seiner Risikoanalyse. Ein Hobby-Wanderer ignoriert es oft in der Hoffnung, dass es vorbeizieht. Ein dramatischer Fall aus dem Jahr 2018, bei dem ein Vater mit seinen Kindern in der Dunkelheit die Orientierung verlor und die erschöpften Kinder bereits auf den Armen tragen musste, bevor die Retter eintrafen, zeigt exemplarisch die Folgen dieser Fehleinschätzung. Er hat die Gefahr, die von der Kombination aus Dunkelheit und Gezeiten ausgeht, schlichtweg unterschätzt.

Profis zeichnen sich durch folgende Prinzipien aus:

  • Exzessive Planung: Sie studieren Karten, Wettermodelle und Erfahrungsberichte. Sie haben immer einen Plan B und C.
  • Analoge Redundanz: Sie verlassen sich nie auf ein einziges Gerät und beherrschen ihre analogen Werkzeuge im Schlaf.
  • Klare Abbruchkriterien: Sie definieren vorab, unter welchen Bedingungen (z.B. Sicht unter 500m, Windstärke über 5 Bft) sie die Tour abbrechen. Ohne Diskussion.

Dennoch darf man sich nie in absoluter Sicherheit wiegen. Wie der Sprecher der DGzRS treffend bemerkt, bleibt immer ein Restrisiko.

Ein kleines Problem kann sich auf See rasch auswachsen. Das kann selbst erfahrene oder gut vorbereitete Sportler im Watt treffen.

– Christian Stipeldey, Sprecher der DGzRS Bremen

Diese Aussage ist keine Entmutigung, sondern ein Appell zur Demut. Die professionelle Haltung bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern den Respekt vor der Natur niemals zu verlieren und die eigene Vorbereitung als wichtigstes Sicherheitsinstrument zu betrachten.

Das Wichtigste in Kürze

  • Zeit ist Ihr kritischster Faktor: Starten Sie Touren nur im Zeitfenster von 2 Stunden vor bis 1 Stunde nach Niedrigwasser und planen Sie immer einen großzügigen Zeitpuffer für den Rückweg ein.
  • Technik ist nur ein Hilfsmittel, kein Retter: Verlassen Sie sich nie allein auf Ihr Smartphone. Ein Kompass und ein Gezeitenkalender auf Papier sind Ihre ausfallsichere Lebensversicherung.
  • Lernen Sie, die Natur zu lesen: Die Fähigkeit, Wetterzeichen (Nebel, Wind) und Gefahren im Watt (Priele, Schlick) zu erkennen, ist wichtiger als jede Ausrüstung. Kehren Sie im Zweifel immer um.

Wie Sie unberührte Natur erkunden ohne Spuren zu hinterlassen

Das Wattenmeer ist nicht nur ein potenzieller Gefahrenort, sondern auch ein unglaublich sensibles und schützenswertes Ökosystem. Es ist eine der produktivsten Naturlandschaften der Welt und dient als unverzichtbare Raststätte für Millionen von Zugvögeln. Aus diesem Grund gehört das Wattenmeer vor der niederländischen, dänischen und deutschen Küste seit 2009 zum UNESCO-Weltnaturerbe. Mit dem Privileg, diese einzigartige Landschaft zu erkunden, geht eine große Verantwortung einher: die Verantwortung, sie unberührt zu lassen.

Jeder Schritt, den Sie tun, hat eine Auswirkung. Das „Leave No Trace“-Prinzip (Hinterlasse keine Spuren) ist hier mehr als nur ein Slogan; es ist eine Notwendigkeit, um dieses fragile Gleichgewicht zu bewahren. Es bedeutet, sich als Gast in der Natur zu verstehen und sich mit maximalem Respekt zu verhalten. Für das deutsche Wattenmeer lassen sich daraus konkrete Verhaltensregeln ableiten, die jeder Besucher befolgen sollte.

  • Respektieren Sie Ruhezonen: Besonders während der Brut- und Aufzuchtzeit (normalerweise April bis Juli) sind bestimmte Bereiche als Schutzzonen ausgewiesen. Betreten Sie diese unter keinen Umständen. Sie sind oft zum Schutz von Seehunden und brütenden Vögeln eingerichtet.
  • Bleiben Sie auf markierten Wegen: In vielen Bereichen des Watts markieren „Pricken“ – in den Boden gesteckte Birken- oder Weidenzweige – sichere Routen. Sie führen Sie nicht nur an Gefahrenstellen vorbei, sondern auch durch weniger sensible Bereiche des Watts.
  • Halten Sie Abstand zu Tieren: Beobachten Sie Seehunde auf Sandbänken und Vögel nur aus der Ferne. Eine Flucht kostet die Tiere wertvolle Energie, die sie zum Überleben benötigen. Eine gute Faustregel ist: Wenn ein Tier sein Verhalten wegen Ihnen ändert, sind Sie zu nah dran.
  • Nehmen Sie nichts mit und lassen Sie nichts zurück: Muscheln, Steine oder Pflanzen gehören zum Ökosystem. Lassen Sie alles an seinem Platz. Selbstverständlich darf auch keinerlei Müll, nicht einmal organische Abfälle wie Apfelreste, zurückgelassen werden.

Sicheres Erkunden bedeutet auch, verantwortungsvoll zu handeln. Die wahre Meisterschaft im Umgang mit der Küste zeigt sich nicht nur darin, Gefahren zu meistern, sondern auch darin, die Schönheit und Wildheit der Natur für zukünftige Generationen zu bewahren.

Ihre Entdeckungstour ist erst dann ein voller Erfolg, wenn sie spurlos bleibt. Ein erneuter Blick auf die Prinzipien des respektvollen Erkundens schärft das Bewusstsein dafür.

Beginnen Sie noch heute damit, diese Sicherheitsprinzipien nicht nur zu kennen, sondern bei jeder einzelnen Planung bewusst anzuwenden. Ihre nächste sichere und unvergessliche Entdeckung an Deutschlands Küsten wartet auf Sie.

Geschrieben von Anna Richter, Dr. Anna Richter ist promovierte Kulturanthropologin und seit 13 Jahren auf ethischen Tourismus und interkulturelle Begegnungen spezialisiert. Sie arbeitet als freiberufliche Reiseanthropologin und Autorin und ist Expertin für verantwortungsvolles Reisen, kulturelle Immersion und nachhaltige Tourismuspraktiken. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen indigene Kulturen, kulturelles Erbe und die Auswirkungen des Tourismus auf lokale Gemeinschaften.