
Entgegen der landläufigen Meinung lässt sich chronischer Stress nicht durch positives Denken besiegen, sondern erfordert eine physiologische Neujustierung des Nervensystems.
- Chronischer Stress ist ein körperlicher Zustand der Dysregulation (Kampf, Flucht oder Erstarrung), in dem kognitive Ansätze wirkungslos bleiben.
- Nachhaltige Erholung gelingt durch „Bottom-up“-Methoden wie Atemarbeit und somatische Übungen, die dem Körper Sicherheit signalisieren, bevor der Geist folgen kann.
Empfehlung: Beginnen Sie nicht im Kopf, sondern im Körper. Integrieren Sie eine tägliche 5-minütige, bewusste Atemübung, um Ihrem Nervensystem den ersten Impuls zur Regulation zu geben.
Fühlen Sie sich permanent unter Strom, obwohl Sie bereits alles versucht haben? Yoga, Meditation, Achtsamkeits-Apps und der gut gemeinte Rat, „einfach positiver zu denken“, haben nicht die erhoffte Linderung gebracht. Sie sind diszipliniert, Sie geben Ihr Bestes, und doch bleiben diese nagende Erschöpfung, die innere Unruhe und das Gefühl, kurz vor dem Ausbrennen zu stehen. Diese Erfahrung ist frustrierend und weit verbreitet, besonders in der leistungsorientierten deutschen Arbeitswelt. Laut einer aktuellen Studie der Pronova BKK fühlen sich 61% der Arbeitnehmer in Deutschland durch Überlastung gefährdet.
Das Problem liegt nicht bei Ihnen oder einem Mangel an Willenskraft. Es liegt in einem fundamentalen Missverständnis darüber, was chronischer Stress wirklich ist. Wir versuchen, ein tief verwurzeltes, physiologisches Problem mit rein mentalen Werkzeugen zu lösen. Doch was, wenn der Schlüssel nicht darin liegt, Ihre Gedanken zu kontrollieren, sondern Ihrem Körper beizubringen, sich wieder sicher zu fühlen? Die moderne Stressforschung, insbesondere die Polyvagal-Theorie, liefert hierfür die entscheidenden Antworten. Sie zeigt, dass chronischer Stress eine Dysregulation des autonomen Nervensystems ist – ein Zustand, den man nicht einfach „wegdenken“ kann.
Dieser Artikel bricht mit dem Mythos des positiven Denkens und führt Sie in die Welt der körperbasierten Stressregulation ein. Sie werden verstehen, warum bisherige Versuche scheitern mussten und wie Sie Ihr Nervensystem gezielt ansprechen können, um aus dem Überlebensmodus auszusteigen. Wir werden einen konkreten Weg aufzeigen, wie Sie durch somatische Intelligenz, also die Weisheit Ihres Körpers, zu echter, nachhaltiger Resilienz und innerem Gleichgewicht finden. Es ist an der Zeit, den Ansatz zu wechseln – vom Kopf zum Körper.
Um Ihnen eine klare Orientierung auf diesem Weg zu geben, haben wir die wichtigsten Informationen in übersichtliche Abschnitte gegliedert. Der folgende Überblick zeigt Ihnen, wie Sie Schritt für Schritt die Kontrolle über Ihr Nervensystem zurückgewinnen können.
Inhaltsverzeichnis: Ihr Wegweiser zum regulierten Nervensystem
- Warum positives Denken bei chronischem Stress nicht funktioniert?
- Wie Sie Ihr Nervensystem in 6 Wochen auf Entspannungsmodus umprogrammieren?
- Atemarbeit oder kognitive Umstrukturierung: Was hilft bei welchem Stress?
- Die 5 unsichtbaren Stressverstärker, die Ihr Nervensystem überlasten
- Gesunder Stress oder Burnout: Wann brauchen Sie professionelle Hilfe?
- Die 5 Homeoffice-Fehler, die zu chronischen Nackenschmerzen führen
- Wie Sie in 8 Wochen emotionale Selbstregulation lernen?
- Wie Sie seelisches Gleichgewicht durch emotionale Regulationskompetenz aufbauen
Warum positives Denken bei chronischem Stress nicht funktioniert?
Der Glaube, man könne Stress durch reine Gedankenkraft überwinden, ist tief in unserer Kultur verankert. Doch wenn Ihr Nervensystem im Überlebensmodus feststeckt, ist dies, als würden Sie versuchen, ein brennendes Haus mit einem aufmunternden Zuspruch zu löschen. Die Ursache liegt im autonomen Nervensystem (ANS), das außerhalb unserer bewussten Kontrolle agiert. Die Polyvagal-Theorie, deren Anwendung kürzlich sogar auf einer Fachtagung in Potsdam diskutiert wurde, bietet hier ein entscheidendes Erklärungsmodell. Sie beschreibt, wie unser System über einen Prozess namens „Neurozeption“ unbewusst die Umgebung auf Sicherheit oder Gefahr scannt und daraufhin einen von drei Zuständen aktiviert.
Diese Zustände bestimmen unsere gesamte Physiologie und unser Fühlen. Wie die Blackroll Redaktion in ihrem Blogbeitrag zum Thema Nervensystemberuhigung erklärt:
Die Polyvagale Theorie beschreibt drei Zustände: Ventraler Vagus (soziale Verbindung & Entspannung), Sympathikus (Kampf- oder Fluchtmodus) mit beschleunigtem Herzschlag und Atmung, sowie Dorsaler Vagus (Erstarrung & Abschaltung) bei extremer Bedrohung.
– Blackroll Redaktion, Blackroll Blog – Das Nervensystem beruhigen
Bei chronischem Stress ist das System in einem der beiden Überlebensmodi gefangen: entweder im hochgefahrenen Sympathikus (Herzrasen, Anspannung, Reizbarkeit) oder im abgeschalteten dorsalen Vagus (Erschöpfung, Leere, Hoffnungslosigkeit). In diesen Zuständen hat der präfrontale Kortex – der Sitz des logischen Denkens – quasi Sendepause. Positive Affirmationen erreichen die tieferen, instinktiven Hirnregionen nicht. Ihr Körper schreit „Gefahr!“, während Ihr Verstand flüstert „Alles wird gut“. Der Körper gewinnt diesen Kampf immer. Echte Veränderung muss daher „bottom-up“ erfolgen: vom Körper zum Gehirn, nicht umgekehrt.
Wie Sie Ihr Nervensystem in 6 Wochen auf Entspannungsmodus umprogrammieren?
Das Nervensystem von einem Zustand der chronischen Dysregulation in einen Zustand der Sicherheit und Flexibilität – den ventralen Vagus-Zustand – zu führen, ist ein Trainingsprozess. Es geht nicht um eine einmalige Entspannungsübung, sondern um die konsequente Vermittlung von Sicherheitssignalen an Ihren Körper. Ein strukturiertes Vorgehen über mehrere Wochen kann dabei helfen, neue neuronale Bahnen zu etablieren. Das Ziel ist es, die Resilienz Ihres Nervensystems zu stärken, sodass es flexibler zwischen An- und Entspannung wechseln kann.
Ein solches Programm könnte wie folgt aussehen, wobei der Fokus auf einfachen, aber regelmäßig durchgeführten Praktiken liegt:
- Woche 1-2: Einführung der 4-7-8-Atemtechnik (4 Sek. einatmen, 7 Sek. halten, 8 Sek. ausatmen) und tägliche 10-minütige Vagusnerv-Aktivierung durch Summen, Gurgeln oder sanfte Nackenmassagen.
- Woche 3-4: Integration von „Waldbaden“ (Shinrin-yoku) am Wochenende zur Reduktion von Stresshormonen und bewusste, kurze Kälteexposition (z. B. kalte Duschen), um die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems zu trainieren.
- Woche 5-6: Erlernen von Co-Regulationstechniken im Kontakt mit vertrauten Menschen (bewusste Präsenz, gemeinsames Atmen) und Nutzung von Wearables zur Überwachung der Herzratenvariabilität (HRV) als Indikator für die Erholung des Nervensystems.
Der Schlüssel liegt in der Regelmäßigkeit. Jede dieser Übungen ist ein kleines Signal an Ihr Nervensystem, dass die Gefahr vorüber ist. Die bewusste Atmung ist dabei oft der direkteste und wirksamste Weg, um den Parasympathikus zu aktivieren und aus dem Kampf-oder-Flucht-Modus auszusteigen.

Wie auf dem Bild zu sehen ist, geht es um einen Moment der vollen Konzentration auf den Körper und den Atemfluss. Es ist diese somatische Intelligenz – das bewusste Hineinspüren in den Körper –, die den Grundstein für eine nachhaltige Regulation legt.
Atemarbeit oder kognitive Umstrukturierung: Was hilft bei welchem Stress?
In der Welt der Stressbewältigung stehen sich oft zwei Ansätze gegenüber: „Bottom-up“-Methoden wie die Atemarbeit, die direkt auf die Körperphysiologie abzielen, und „Top-down“-Strategien wie die kognitive Umstrukturierung, die bei den Gedanken ansetzen. Beide haben ihre Berechtigung, doch ihre Wirksamkeit hängt stark von der Art des Stresses ab. Die Frage ist nicht, welche Methode besser ist, sondern welche wann die richtige ist.
Bei akutem, situativem Stress – wie vor einer Präsentation oder in einer Konfliktsituation – ist Ihr Sympathikus aktiv. Ihr Herz schlägt schneller, Sie sind angespannt. Hier sind körperbasierte Techniken wie tiefes, langsames Atmen unschlagbar. Sie aktivieren den ventralen Vagusnerv, den „Entspannungsnerv“, und signalisieren dem Körper sofort, dass die Gefahr gebannt ist. Laut Experten von HelloBetter kann sich das vegetative Nervensystem bei akuten Reaktionen innerhalb von 20-30 Minuten wieder beruhigen, wenn der Stresszyklus abgeschlossen wird.
Bei chronischen Sorgenkreisläufen und festgefahrenen negativen Denkmustern hingegen, die oft die Folge von langanhaltendem Stress sind, kann die kognitive Umstrukturierung aus der Verhaltenstherapie sehr wirksam sein. Hier lernt man, dysfunktionale Gedanken zu erkennen und durch realistischere zu ersetzen. Dies ist jedoch ein langfristiger Prozess und oft nur dann erfolgreich, wenn das Nervensystem bereits eine gewisse Grundregulation aufweist. Der folgende Vergleich, basierend auf Informationen der Techniker Krankenkasse, verdeutlicht die unterschiedlichen Anwendungsbereiche und berücksichtigt auch den für Deutschland relevanten Aspekt der Kostenübernahme.
| Stressart | Empfohlene Methode | Wirkungsweise | Kassenerstattung |
|---|---|---|---|
| Akuter situativer Stress | Atemarbeit | Aktiviert Parasympathikus sofort | Meist Selbstzahlung |
| Chronische Sorgenkreisläufe | Kognitive Umstrukturierung | Verändert Denkmuster langfristig | Übernommen bei Verhaltenstherapie |
| Körperlich manifestierter Stress | Somatic Experiencing | Löst körperliche Verspannungen | Teilweise bei Zusatzversicherung |
Die effektivste Strategie kombiniert oft beides: Zuerst den Körper durch somatische Übungen aus dem Alarmzustand holen, um dann mit einem klareren Kopf an den zugrundeliegenden Denkmustern arbeiten zu können.
Die 5 unsichtbaren Stressverstärker, die Ihr Nervensystem überlasten
Oft sind es nicht die großen, offensichtlichen Krisen, die uns in den chronischen Stress treiben, sondern eine Summe kleiner, ständiger Belastungen. Diese „unsichtbaren“ Stressverstärker halten unser Nervensystem in einem Zustand latenter Anspannung und verhindern, dass wir uns wirklich erholen. Sie zu identifizieren, ist der erste Schritt, um ihre Macht über uns zu brechen.
Einer der größten modernen Stressoren ist die permanente Erreichbarkeit. Das Smartphone ist unser ständiger Begleiter, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Eine Studie von BuchhaltungsButler zeigt, dass 27% der Arbeitnehmer die ständige Erreichbarkeit als Hauptgrund für Stress nennen. Jede Benachrichtigung kann einen kleinen Adrenalinstoß auslösen und das Nervensystem im Sympathikus-Modus halten.

Neben der digitalen Überflutung gibt es weitere subtile Faktoren:
- Sozialer Perfektionismus: Der ständige Druck, Erwartungen anderer zu erfüllen und Konflikte zu vermeiden, führt zu einer permanenten Selbstüberwachung und Anspannung.
- Bewegungsmangel: Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin bereiten den Körper auf Kampf oder Flucht vor. Bleibt die körperliche Entladung durch Bewegung aus, verbleiben diese Stoffe im System und erhalten die Anspannung.
- Unverarbeitete Emotionen: Unterdrückte Gefühle wie Wut oder Trauer binden enorme Mengen an Energie und halten das Nervensystem in einem Zustand der Dysregulation.
- Gesellschaftliche Rollenbilder: Burnout-Statistiken der AOK zeigen, dass Frauen signifikant häufiger betroffen sind, mit 174 Ausfalltagen pro 1.000 Mitglieder im Vergleich zu 97,6 bei Männern. Dies deutet auf den zusätzlichen Stress durch die „Mental Load“ und gesellschaftliche Erwartungen hin.
Diese Faktoren wirken oft im Verborgenen. Ein Bewusstsein für diese unsichtbaren Einflüsse ermöglicht es, gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wie digitale Auszeiten, bewusste Bewegung und die Erlaubnis, nicht immer perfekt sein zu müssen.
Gesunder Stress oder Burnout: Wann brauchen Sie professionelle Hilfe?
Stress ist nicht per se schlecht. Kurzfristiger, positiver Stress (Eustress) kann uns zu Höchstleistungen anspornen und ist ein normaler Teil des Lebens. Problematisch wird es, wenn aus der kurzfristigen Anforderung eine Dauerbelastung wird und die Erholungsphasen ausbleiben. Dieser chronische negative Stress (Distress) kann in einen Burnout münden – einen Zustand tiefer emotionaler, geistiger und körperlicher Erschöpfung. Doch wo liegt die Grenze? Anzeichen für einen drohenden Burnout sind unter anderem chronische Müdigkeit, die auch durch Schlaf nicht besser wird, eine zunehmende emotionale Distanz zur Arbeit und zu Mitmenschen (Zynismus) sowie das Gefühl, den eigenen Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein.
Wenn Sie solche Symptome bei sich beobachten, ist es kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Verantwortung, sich professionelle Hilfe zu suchen. Ein Burnout ist eine ernstzunehmende Erkrankung, die im Durchschnitt zu 30 Tagen durchschnittlicher Fehlzeit bei einer Diagnose führt. Das deutsche Gesundheitssystem bietet hierfür klare Wege. Es ist wichtig, diese zu kennen, um im Bedarfsfall schnell und effektiv handeln zu können.
Ihr Aktionsplan: Professionelle Hilfe bei Burnout in Deutschland
- Erstgespräch beim Hausarzt: Schildern Sie Ihre Symptome, Belastungen und den Leidensdruck. Der Hausarzt ist die erste Anlaufstelle und kann eine erste Einschätzung geben sowie körperliche Ursachen ausschließen.
- Überweisung einholen: Lassen Sie sich eine Überweisung zu einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder direkt zu einem psychologischen Psychotherapeuten ausstellen.
- Terminservicestelle nutzen: Bei langen Wartezeiten können Sie sich an die Terminservicestelle Ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) unter der bundesweiten Telefonnummer 116 117 wenden, um schneller einen Termin für ein Erstgespräch zu bekommen.
- Antrag bei der Krankenkasse: Nach den ersten probatorischen Sitzungen stellt der Therapeut einen Antrag auf Kostenübernahme für eine Psychotherapie bei Ihrer gesetzlichen oder privaten Krankenkasse.
- Akute Krisenintervention: Sollten Sie sich in einer akuten Krise mit suizidalen Gedanken befinden, zögern Sie nicht, den Notruf (112) zu wählen oder die Notaufnahme der nächsten psychiatrischen Klinik aufzusuchen.
Der rechtzeitige Gang zum Arzt kann den Verlauf entscheidend positiv beeinflussen und den Weg zurück zu Gesundheit und Lebensfreude ebnen.
Die 5 Homeoffice-Fehler, die zu chronischen Nackenschmerzen führen
Chronischer Stress manifestiert sich nicht nur psychisch, sondern auch sehr konkret im Körper. Ein Paradebeispiel sind Nackenschmerzen, die für viele Berufstätige im Homeoffice zum Dauerbegleiter geworden sind. Die Ursache ist dabei oft eine unheilvolle Allianz aus schlechter Ergonomie und einem dysregulierten Nervensystem. Stress führt zu einer unbewussten, dauerhaften Anspannung der Muskulatur (insbesondere Nacken und Schultern), was die Durchblutung stört und zu Schmerzen führt. Im Homeoffice wird dieser Teufelskreis durch spezifische Fehler oft noch verstärkt.
Hier sind die fünf häufigsten Fehler, die Ihren Nacken im Homeoffice belasten:
- Der „Laptop-Nacken“: Das Arbeiten an einem Laptop ohne externen Monitor und Tastatur zwingt den Kopf in eine unnatürlich nach vorne gebeugte Haltung. Dies erhöht den Druck auf die Halswirbelsäule um ein Vielfaches.
- Der starre Arbeitsplatz: Stundenlanges Verharren in derselben Position, oft auf einem ungeeigneten Küchenstuhl, verhindert die für die Bandscheiben notwendige Mikrobewegung und führt zu Verspannungen.
- Fehlende Pausen und Bewegung: Ohne den Weg zum Kollegen oder zur Kaffeemaschine im Büro reduzieren sich die natürlichen Bewegungspausen. Der Stress kann sich nicht körperlich entladen und verfestigt sich in der Muskulatur.
- Verschwimmende Grenzen: Wenn der Esstisch zum Schreibtisch wird, fehlen die mentalen und physischen Rituale, die den Feierabend einläuten. Das Nervensystem bleibt im Arbeits- und damit im Anspannungsmodus.
- Visueller Stress: Das stundenlange Starren auf einen zu kleinen oder schlecht positionierten Bildschirm führt nicht nur zu Augenbelastung, sondern auch zu einer unbewussten Anspannung der Nacken- und Gesichtsmuskulatur.
Diese Fehler sind mehr als nur schlechte Angewohnheiten; sie sind physische Stressoren, die dem Nervensystem kontinuierlich „Gefahr“ signalisieren. Die Lösung liegt in einer Kombination aus ergonomischer Optimierung (externer Monitor, guter Stuhl) und bewussten Regulationspausen (kurze Dehnübungen, Atemtechniken), um den Teufelskreis aus Anspannung und Schmerz zu durchbrechen.
Wie Sie in 8 Wochen emotionale Selbstregulation lernen?
Wenn das Nervensystem die Fähigkeit zurückgewinnt, flexibel zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln, ist die Basis für den nächsten Schritt gelegt: die Entwicklung emotionaler Selbstregulationskompetenz. Dabei geht es nicht darum, Gefühle zu unterdrücken, sondern sie bewusst wahrzunehmen, zu verstehen und konstruktiv zu steuern. Ein zentrales Konzept hierfür ist das „Window of Tolerance“ (Toleranzfenster). Innerhalb dieses Fensters fühlen wir uns präsent, können klar denken und mit Emotionen umgehen. Chronischer Stress schrumpft dieses Fenster. Wir kippen schneller in die Übererregung (Hyperarousal: Wut, Angst, Panik) oder die Untererregung (Hypoarousal: Leere, Taubheit, Dissoziation).
Das Ziel ist es, dieses Fenster schrittweise wieder zu weiten. Ein 8-Wochen-Plan kann dabei helfen, die dafür nötigen Fähigkeiten aufzubauen:
- Woche 1-2: Identifizieren des eigenen Toleranzfensters durch tägliche Selbstbeobachtung. Ergänzt wird dies durch Körperwahrnehmungsübungen wie den Bodyscan, um die Verbindung zum Körper zu stärken.
- Woche 3-4: Aktives Erkennen von Hyperarousal- und Hypoarousal-Zuständen im Alltag. Wann und wodurch kippe ich aus meinem Fenster? Was sind die ersten körperlichen Anzeichen?
- Woche 5-6: Einüben spezifischer Fähigkeiten zur Emotionsregulation, oft angelehnt an die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT). Dazu gehören z. B. „Skills“ zur Krisenbewältigung wie das Anwenden starker Sinnesreize (kaltes Wasser, scharfe Bonbons), um sich aus einem extremen Zustand zurückzuholen.
- Woche 7-8: Praktizieren von Co-Regulation. Bewusst den beruhigenden Einfluss einer vertrauten, sicheren Person nutzen, um das eigene Nervensystem zu stabilisieren.

Diese Reise erfordert Geduld und Selbstmitgefühl. Jedes Mal, wenn Sie bemerken, dass Sie Ihr Toleranzfenster verlassen, und eine kleine Intervention anwenden, um zurückzufinden, stärken Sie Ihre Regulationsfähigkeit. Es ist ein aktives Erlernen der Sprache Ihres Nervensystems.
Das Wichtigste in Kürze
- Chronischer Stress ist ein physiologischer Zustand der Dysregulation des Nervensystems, keine mentale Schwäche.
- Nachhaltige Veränderung geschieht „Bottom-up“ (vom Körper zum Geist) durch somatische Praktiken, die dem Körper Sicherheitssignale senden.
- Das Erkennen des eigenen Zustands (im Toleranzfenster, in Über- oder Untererregung) ist der erste entscheidende Schritt zur Selbstregulation.
Wie Sie seelisches Gleichgewicht durch emotionale Regulationskompetenz aufbauen
Der Weg aus dem chronischen Stress mündet in der Fähigkeit, seelisches Gleichgewicht aktiv herzustellen und zu bewahren. Diese emotionale Regulationskompetenz ist das Fundament wahrer Resilienz. Sie ist das Ergebnis der zuvor beschriebenen Schritte: dem Verstehen der eigenen Physiologie, dem Trainieren des Nervensystems und dem Erlernen des Umgangs mit den eigenen Emotionen. Es geht nicht darum, ein Leben ohne Stress anzustreben – das ist eine Illusion. Es geht darum, die Fähigkeit zu entwickeln, nach Stressphasen wieder effektiv in den Zustand der Sicherheit und Verbundenheit, den ventralen Vagus-Zustand, zurückzufinden.
Der Anstieg psychischer Belastungen ist alarmierend; Statistiken deutscher Krankenkassen zeigen eine 56% Zunahme der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen von 2010 bis 2020. Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit, wirksame und nachhaltige Kompetenzen aufzubauen, die über oberflächliche Entspannungstipps hinausgehen. Emotionale Regulationskompetenz bedeutet, eine Art inneren Kompass zu besitzen. Sie erkennen frühzeitig die Signale Ihres Körpers, verstehen, was diese bedeuten, und verfügen über ein Repertoire an Werkzeugen – von der einfachen Atemübung bis zur bewussten Co-Regulation mit anderen –, um sich selbst zu stabilisieren.
Dieses seelische Gleichgewicht ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Es ist die Fähigkeit, mit den Wellen des Lebens zu surfen, anstatt von ihnen überrollt zu werden. Indem Sie die Sprache Ihres Nervensystems lernen, werden Sie vom passiven Opfer Ihrer Stressreaktionen zum aktiven Gestalter Ihres Wohlbefindens. Dies ist der ultimative „Reset“: Nicht das Löschen von Stress, sondern das Installieren eines neuen, resilienteren Betriebssystems für Körper und Geist.
Der erste Schritt auf diesem Weg muss nicht groß sein. Beginnen Sie noch heute damit, diese Prinzipien in die Praxis umzusetzen, indem Sie eine der vorgestellten somatischen Übungen auswählen und sie zu einem festen, wenn auch kleinen, Teil Ihres Alltags machen.
Häufige Fragen zum Thema Nervensystem-Regulation
Was ist der Unterschied zwischen Nervensystem-Regulation und Emotionsregulation?
Die Regulation des Nervensystems ist die physiologische Basis. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit des autonomen Nervensystems (ANS), zwischen den Zuständen von Sicherheit (ventraler Vagus), Aktivierung (Sympathikus) und Abschaltung (dorsaler Vagus) flexibel zu wechseln. Dieser Prozess wird durch die unbewusste „Neurozeption“ gesteuert, die ständig die Umgebung auf Gefahren scannt. Emotionsregulation ist die darauf aufbauende psychologische Fähigkeit, Gefühle bewusst wahrzunehmen, zu verstehen und zu steuern. Man könnte sagen: Ein reguliertes Nervensystem ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Emotionsregulation.
Wie lange dauert es, das Nervensystem zu regulieren?
Das hängt von der Art des Stresses ab. Nach einer akuten, kurzen Stressreaktion kann sich das Nervensystem innerhalb von 20 bis 30 Minuten wieder beruhigen, vorausgesetzt, der Stressreaktionszyklus (Anspannung und Entladung) wird vollständig durchlaufen. Bei chronischem Stress, der das System über Monate oder Jahre dysreguliert hat, ist die Wiederherstellung eines stabilen Gleichgewichts ein längerer Prozess, der Wochen bis Monate konsequenter Praxis erfordern kann.
Welche Rolle spielt der Vagusnerv bei der Entspannung?
Der Vagusnerv ist der Hauptakteur des parasympathischen Nervensystems, unseres „Entspannungssystems“. Insbesondere sein ventraler Ast ist für die Zustände von Ruhe, sozialer Verbundenheit und Sicherheit verantwortlich. Man kann ihn gezielt aktivieren, um Stressreaktionen entgegenzuwirken. Kurzfristig helfen Techniken wie die 4-7-8-Atemübung. Langfristig wird seine Funktion durch regelmäßige Praktiken wie tiefe Atmung, Meditation, Kälteexposition, Bewegung und sogar Singen oder Summen gestärkt, was die allgemeine Resilienz des Nervensystems erhöht.